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An Grenzen aushalten

Petra Maria Hothum SND, August 2022

„Wo Muster ist, soll Freiheit werden!” – Diese plakativen Worte gehen mir nach, seit ich sie vor einigen Wochen in einer Predigt Bertrams zu den Nachfolgebedingungen im Lukas-Evangelium gehört habe. Bertram fasst damit zusammen, worum es in der Nachfolge Jesu geht. Nämlich darum, aus unseren Mustern, die uns normalerweise wie selbstverständlich antreiben und regieren, herauszukommen und immer mehr zu dem Menschen zu werden, der wir in Wahrheit sind, zu einem Menschen, der aus dem verborgenen Grund aller Wirklichkeit, der unbedingte Liebe ist, in innerer Freiheit leben und handeln kann – so wie Jesus es getan hat.

Diese Perspektive, die in der Nachfolge Jesu eröffnet wird, klingt verlockend und einladend. Denn: Wer möchte das letztlich nicht? Wer möchte einengende Verhaltensweisen und stereotype Muster nicht gerne hinter sich lassen? Wer möchte nicht innerlich frei sein und sein Leben und Handeln dementsprechend gestalten können? Wer möchte nicht die Person sein, die er oder sie in Wahrheit ist und sich als solche bedingungslos angenommen und geliebt wissen? – Tief in uns Menschen gibt es diese Sehnsucht, eine Sehnsucht, die über alles, was die Welt bieten kann, hinausgeht, eine Sehnsucht allerdings auch, die vielfach verdeckt oder verschüttet ist durch all das vordergründig Drängende, zu Erstrebende oder zu Vermeidende, das uns beschäftigt und in unseren Mustern gefangen hält.

„Wo Muster ist, soll Freiheit werden!” – Wie kann dieser Verwandlungsprozess geschehen? Damit Muster und Automatismen ihre Selbstverständlichkeit und ihre Macht über uns verlieren können, müssen sie uns überhaupt erst als solche bewusst werden. Das wiederum ist alles andere als selbstverständlich, denn sie sind uns ja derart nah und wir sind derart mit ihnen verwoben, dass wir sie nicht ohne weiteres vor uns bringen und anschauen können. Dafür braucht es Abstand, einen Abstand, der vor allem dann entsteht, wenn wir an eine Grenze stoßen, wenn also das vermeintlich Selbstverständliche in Frage gestellt oder uns gar entzogen wird, es uns nicht mehr oder zumindest nicht im üblichen Maße zur Verfügung steht.

Was an dieser Grenze geschieht und warum sie so bedeutsam ist auf dem Weg der Nachfolge, führt Bertram in seiner Predigt folgendermaßen aus: „An der Grenze geht es nicht mehr mit dem Selbstverständlichen. Damit liefert die Grenze uns die Chance, uns dessen bewusst zu werden, was uns eigentlich in die Richtung getrieben hat, die uns die Grenze nun verlegt. Wir bekommen an der Grenze die Chance, etwas des uns Selbstverständlichen zu gewahren. Und wir kommen vor die Entscheidung, ob wir daran festhalten – auf Biegen und Brechen sozusagen – oder ob wir uns auf die Seite der Wirklichkeit stellen, die sich uns an der Grenze zeigt und ob wir uns von den Tatsachen führen lassen. Wir kommen vor die Entscheidung, ob wir die ‚Dinge‘ partout so haben wollen, wie wir sie haben wollen und schon immer gehabt haben oder ob wir die Wirklichkeit als solche anerkennen. Und wer Letzteres tut und seinen Antrieb, der ja jetzt ohnehin nicht funktioniert, loslässt, der erfährt Befreiung zu sich selbst. Er muss nicht das erreichen, wohin er unterwegs war; er kann ohne das leben. Er muss z.B. keinen Titel haben, kein stetig wachsendes Bankkonto, kein Ansehen und keinen Ruhm, um leben zu dürfen. Das Leben speist sich aus einer anderen Quelle, die tief in uns, aber zu der unser Zugang dünn ist. Und da wird er geweitet, das geschieht an der Grenze. Wir werden mehr der Mensch, der wir sind; wir werden mehr in unserem Kern gegründet, der Gott ist. …

Das Aushalten an der Grenze ist das, was wir in der Meditation zu üben versuchen: wir halten die Hitze aus, das Schwitzen, die Langeweile, den Schmerz … – so gut wir es halt können. Das verändert uns. Buddha sieht das genauso: ‚Das Aushalten beim Unangenehmen ist das herausragende Mittel zur Reinigung des Geistes‘ (Dhammapada), der dadurch freier wird.” (zitiert aus der Predigt von Bertram zu Lk 9,51-62 am 26.06.2022)

Dass uns Weitung, Freiheit und wahres Leben im Aushalten an der Grenze zuwachsen können, ist zutiefst herausfordernd, und zugleich ist es Frohe Botschaft, gerade in einer Zeit, in der es an vielfältigen Grenzsituationen – ausgelöst durch Corona-Pandemie, Klimawandel, Krieg, Teuerung, Energieknappheit usw. mit allen damit zusammenhängenden Entwicklungen, Fragen und Unsicherheiten – nicht fehlt.