Ada v. Lüninck, Juli 2022
”Erinnere dich an das klare Licht, das reine, klare, weiße Licht, von dem alles im Universum abstammt, zu dem alles im Universum zurückkehrt, die ursprüngliche Natur deines eigenen Geistes. (…)”
Diese Einladung aus dem Tibetanischen Totenbuch berührt mich jedes Mal, wenn ich den Text lese oder er mir einfällt. Spontan schenke ich der Aussage Vertrauen. Mich berührt, dass ich mich erinnern soll. Mir wird zugesagt, dass ich das, was mir hier mitgeteilt wird – meine ursprüngliche Natur sei dieses reine, klare, weiße Licht – dass ich das schon weiß. Und ich ahne, dass das stimmt. Ich merke meine Sehnsucht danach: nach diesem Licht, nach meiner „ursprünglichen Natur” , nach meinem eigentlichen Selbst.
Bei näherem Hinschauen wird mir jedoch mitunter bewusst, dass ich mich erst einmal nach der Fähigkeit sehne, mich an so etwas Schönes in mir selbst überhaupt erinnern zu können, und mir fällt alles ein, was mich daran hindert, ich ergehe mich in der Betrachtung meiner vielen schlechten Eigenschaften, meiner traurigen Erfahrungen, all der – tatsächlichen oder auch nur von mir so zugeordneten – Finsternisse, die ich in mir vorfinde.
Das Tibetanische Totenbuch ist dazu geschrieben, dass es Sterbenden vorgelesen wird, um ihnen in den Wirren des Abschieds von ihrem irdischen Leben den Weg zu weisen.
Und ich nehme im Moment wahr, wie wir in unserem von Wohlstand, Sicherheit und Frieden verwöhnten Land von manchem Abschied nehmen müssen, das wir für so selbstverständlich hielten, dass wir nicht einmal darüber nachgedacht haben: von der Gewissheit, im Winter eine schön warme Wohnung zu haben; von der Annahme, dass Frieden zwischen den Völkern ein von allen Menschen geteiltes Ziel ist; von der Möglichkeit, mit Menschen in Kontakt zu sein, wann immer wir wollen; und vieles mehr. Für mich beinhalten Grundübungen im Ashram Jesu nicht zuletzt die Einladung, mich in allen äußeren und inneren Wirren wieder erinnern zu lernen. Ich finde dort, fern von meinem Alltagstun, das sonst meine Gedanken besetzt hält, einen geschützten Raum, in dem ich es wagen kann, mich dem, was mich innerlich bewegt, auszusetzen und dabei auch zu bleiben. Indem ich dabei bleibe, übe ich – gerade, wenn es unangenehm ist – Vertrauen in ein Nichts hinein, das, wie sich zeigt, doch trägt durch mein Bleiben hindurch.