Bertram Dickerhof SJ, August 2018
In den letzten Wochen ist mir das Thema Tod in vielfacher Weise begegnet: da waren mehrere Gespräche mit Trauernden, die ihre erwachsenen Kinder verloren haben. Ich habe eine Ahnung bekommen von dem Schmerz und Weh, das wie ein Schwert durch die Seele dringt. Dann der Tod in der Natur rings um die Hirsenmühle: Bäume am Elbbach, die sich schon Ende Juli verfärben und ihre Blätter fallen lassen. Die Apfelbäume verlieren ihre Früchte, ihr Saft reicht nicht mehr, um sie zu halten. Verbrannte Felder und Wiesen, soweit das Auge reicht. Kürzlich habe ich gelesen, dass Wissenschaftler die Unumkehrbarkeit der Klimaerwärmung befürchten: die auftauenden Permafrostböden und die abtauenden Gletscher setzen ungeheure Mengen an CO2 frei, ein Effekt, der durch das Abholzen der Regenwälder noch verstärkt wird.
Zerstörung und Tod.
Und wir Menschen fliehen davor. Es darf uns nicht wirklich voll bewusst werden. Der Psychiater und Romanautor Yalom sieht in seiner existenziellen Psychotherapie als tiefsten Konflikt des Menschen den Konflikt von Sein und Nichtsein an. Kinder müssen sich schon in sehr frühen Jahren mit ihm auseinandersetzen und eine Möglichkeit finden, die Todesangst zu verdrängen. Diese ist die Angst vor dem radikalen Zu-Nichte-Werden, die Angst vor dem Nicht-Sein. Der Erwachsene wandelt diese Angst um in Furcht: die Furcht vor dem Sterbeprozess und wie er zu bewältigen ist; Furcht vor der Belastung der Angehörigen, vor dem Verlust, den der eigene Tod ihnen zumutet. Aber die Angst vor dem Tod ist die Angst vor dem Nichts, vor der Auslöschung der eigenen Person. Als Kind lerne der Mensch, so Yalom, diese Angst durch Glauben zu bewältigen, und zwar daran, etwas so Besonderes zu sein, dass zwar die anderen sterben müssen, jedoch nicht man selbst. Oder durch den Glauben, dass einen vor dem Tode ein Retter bewahrt oder durch eine Mischform der beiden Glaubensinhalte. Damit ist bis auf weiteres der Tod auch für den Erwachsenen gänzlich aus dem Leben herauszuhalten, zumindest ist er an das Ende des Lebens zu verschieben, und dieses Ende ist so weit weg, dass man nicht daran denken muss. Wein, Weib, Gesang und Bäder halfen den antiken Griechen. Was hilft uns heute? Stress in Arbeit und Konsum? Das atemlose Gieren nach immer mehr?
Das geht so, bis der Tod einen einholt: ein geliebter Mensch stirbt, und dieses Sterben trifft einen selbst ins Mark. Die eigene Person kommt in Todesgefahr und versteht, dass der Tod nicht am Ende des Lebens stattfindet, sondern bereits das ganze Leben begleitet. Der Sand in der Sanduhr des Lebens ist schon ganz ansehnlich durchgeronnen: vierzig Prozent, siebzig Prozent, …
Für das spirituelle Leben ist die Wahrheit: „Ich sterbe – jetzt! Ich bin schon mitten drin im Sterbeprozess. Mein Tod hat schon begonnen!” von zentraler Bedeutung. Nur so ist ein Leben vor dem Tod überhaupt möglich: das eigene Tun und Lassen bekommt Bedeutung: es wird ja endgültig. Die Unterscheidung von Wert und Unwert wird erleichtert. Es wird klarer, was noch zu verwirklichen ist im Leben, und dass dies jetzt anzugehen ist, wo noch Kraft dazu da ist. Als welcher Mensch möchte man auf seinem Sterbebett liegen? Was soll dann geworden sein aus einem selbst? Wenn auf den Grabstein geschrieben würde, worum es diesem Toten im Leben wirklich gegangen ist: wie würde meine Wahrheit lauten?
Wann immer ich in meinem Leben dem Tod begegnet bin, hat er mich in Panik versetzt. Zunächst. Doch dann hat mich die Begegnung mit dem Tod ernüchtert und zentriert. Der Ashram wäre ohne eine solche Erfahrung nicht entstanden. Das Bewusstsein des Sterbenmüssens ist eine große Kraft und Hilfe bei der Gestaltung des Lebens. Und es ist die Voraussetzung dafür, eine Erfahrung von Auferstehung geschenkt zu bekommen und damit die Hoffnung, dass sich das österliche Geheimnis im Zu-Nichte-Werden der eigenen Person vollendet. So lässt sich in nüchterner Hoffnung die Zeit gestalten, die einem auf dieser Erde gegeben ist.