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Scheitern einräumen
Alfons Gierse, Dezember 2022
Unsere Tochter hat sich nach langem Ringen vor eineinhalb Jahren von ihrem Mann getrennt. Die Scheidung steht kurz bevor. Doch möchte ich an dieser Stelle nicht über das Scheitern von deren Ehe schreiben, sondern vielmehr über mein eigenes Ringen und Scheitern. Ich möchte über die Krise sprechen und reflektieren, in die mich dieses Ereignis hineingestürzt hat.
Als Eheberater habe ich tagtäglich mit den Krisen von Paaren zu tun und kann damit in professioneller Weise umgehen. Die sich abzeichnende Beziehungskrise unserer Tochter und unseres Schwiegersohnes hat mich dagegen mit einer inneren Lähmung und Handlungsunfähigkeit konfrontiert – hin- und hergeworfen zwischen der Weigerung, das was ist, zu akzeptieren und der immer wieder aufkeimenden Hoffnung, dass die Beziehung dennoch weitergeht. Das endgültige Aus schließlich war für mich wie ein Katalysator für ein unentwirrbar scheinendes Gemisch unterschiedlicher Gefühle und Stimmungen: Traurigkeit, Ärger, Wut und Enttäuschung, Solidarisierung mit dem Schwiegersohn, Abwertung der eigenen Tochter, insgeheimen Erwartungen und Vorwürfen. Und wo ich diese Zeilen schreibe komme ich erneut in Kontakt mit dem Gefühl der Scham, all dies in der Weise gefühlt – und vor allem aus den Gefühlen heraus gehandelt zu haben. Biografisch erlernte Strategien und Muster der Stressbewältigung und Beziehungsgestaltung lebten neu auf, mich davon zu entkoppeln war mir nicht möglich. Ich steckte fest im Widerstand, einem Widerstand, der nach außen hin dem Ende der Ehe „unserer Kinder” galt, der sich nach und nach jedoch als Widerstand nach innen entpuppte, die eigenen Erwartungen und Projektionen aufzugeben.
Das Scheitern ihrer Ehe konfrontierte mich mit dem Scheitern meiner eigenen Ansprüche und Zuschreibungen, mit dem Scheitern dessen, was ich für sie angestrebt, gesucht, ersehnt und erhofft hatte. „Wir haben so viele Krisen und schwere Zeiten gemeinsam durchgestanden und ihr gebt so schnell auf” – Das Scheitern ihrer Ehe brachte das mögliche aber als Möglichkeit ausgeblendete Scheitern der eigenen Ehe schmerzhaft ins Bewusstsein. Risse und Brüche taten sich auf: Zwischen mir und meiner Tochter auf der Beziehungsebene; zwischen dem Theologen, der vor 25 Jahren über den barmherzigen Umgang mit wiederverheiratet Geschiedenen geschrieben hat (was ihm fast den Job gekostet hätte) und dem Vater, der es nicht fertigbringt, diese Theorie praktisch werden zu lassen.
All das sickerte allmählich im meine bewusstere Wahrnehmung, hob aber mein Dilemma nicht auf, in dem ich steckte – oder besser meinte zu stecken: Entweder ich gebe meine eigenen Geltungsansprüche bzgl. einer (aus dem Glauben gelebten) Ehe auf und gehe neu in Beziehung oder ich bleibe bei meinen inneren Bildern und Vorstellungen und verrate die Beziehung. Wie kommt man aus einem solchen Dilemma heraus? Nicht durch unbekümmerte Suche oder durch theoretische Gedankenspiele. Auch nicht in Form theologischer Reflexion, die in und aus abgeklärter Ruhe entsteht und darin verläuft. Die Wende kam nicht aus eigener innerer Kraft, aber auch nicht einfach von außen durch eine Handlungsanweisung. Die Wende ereignete sich. Sie ereignete sich nach einem gemeinsamen Frühstück mit meiner Frau in der Küche im Türrahmen zum Hauswirtschaftsraum, die Türklinke in der Hand, die Tasche gepackt für den Weg zur Arbeit. „Es” schüttelte mich durch und durch, ein körperliches Beben bis zur Erschöpfung, das Hemd durchnässt von Tränen und Schweiß. Die ganze psychische und physische Not brach sich Bahn – gehalten von und in den Armen meiner Frau. Ich hatte das Gefühl, als würde der Stein vom Grab weggerollt, als öffnete sich dahinter ein Raum, in dem es möglich sein würde, die Dinge anders zu sehen und ggf. neu handzuhaben. Heute würde ich sagen, die Wende zum Neuen kommt nicht aus eigener Kraft, ist kein Entwurf und kein Projekt, über das ich souverän verfügen kann. Die Wende zum Neuen trägt sich zu, stellt sich ein, wird geschenkt – und zwar da, wo ich im Bewusstsein des Widerstands zum Grab gehe, wie Bertram es in seinem Buch schreibt. Die Frauen am Ostermorgen oder die Jünger auf dem Weg nach Emmaus geben dem Scheitern Raum und inmitten dieser „Raumgabe” geschieht die Wende zum Neuen, die den bisherigen Rahmen übersteigt – „Auferstehung”.
Mit innerem und äußerem Abstand kann ich sagen, dass diese Erfahrung meine Sicht auf viele Dinge noch einmal verändert hat. Das betrifft zunächst das Gottesbild: Gott steckt oder ereignet sich inmitten der Lebenswenden im Tod des Scheiterns. Gott ist kein Gott souveräner Erfolge. Sein Ort ist der Raum, der sich im Scheitern öffnet und in dem in dem sich neue Lebens- und Beziehungsmöglichkeiten erschließen.
Menschlich leben heißt nicht, eine souveräne, unverwundbare Identität aufzubauen, sondern in befreiender Weise neue kreative Lebensmöglichkeiten in und aus Scheitern zu entdecken und dadurch herrschende Raster in Frage zu stellen, die über die Anerkennung von Menschen entscheiden.
Es geht in Kirche und Welt um jenes andere „neue” Leben, das möglich wird durch wahre Begegnung jenseits von theologischen, moralischen oder gesellschaftlichen Rastern; um Beziehungen, die mich tiefer an die Wirklichkeit der Anderen bindet, als mir zuvor bewusst war oder ich es zulassen konnte.
Ein paar abschließende Gedanken zu dem Bild: Bei einem meiner Spaziergänge während unseres Sommerurlaubs ganz im Norden von Rügen stand ich vor diesem Stein – und ich wusste, dass dies das Bild für den Oktober-Newsletter ist. Da ist etwas unwiderruflich zerbrochen. Es gibt kein Zurück in eine zuvor existierende Ganzheit. Beide Teile tragen in den Flechten Spuren einer gemeinsamen Wirklichkeit, die wie ein Narbengewebe anmuten. Ein kleines Dreieck überragt den Spalt – Sinnbild einer tastend-zaghaften Wiederannäherung.
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Innehalten
Bertram Dickerhof SJ, September 2022, September 2022
Die TeilnehmerInnen an unseren Jahreskursen wie z.B. der Spirituellen Spurensuche richten in ihrer täglichen Routine eine halbe Stunde des Innehaltens und Innewerdens ein. In dieser stillen Zeit üben sie etwa 20 Minuten Meditation und 10 Minuten Betrachtung eines geistlichen Textes. Nach einiger Zeit zeigen sich ihnen Auswirkungen dieser Praxis auf ihren Alltag:
Sie erzählen dann, dass es immer wieder vorkomme, dass ihnen in der Meditation eine Idee einfällt, wie sie mit einem Problem, das sie umtreibt, umgehen können. Diese Idee sei nicht nur ein Gedanke und eine Möglichkeit, sondern sie „durchfahre” ihre ganze Person so konkret, dass sie die Umsetzung nicht überlegen müssen, sondern sie aus ihrer Personmitte heraus einfach vollziehen. Manchmal koste es Mut und Vertrauen, dieser Eingebung zu folgen. Aber sie fühlten sich identisch mit sich selbst dabei; es „stimme” einfach. Oft habe dies die Lösung gebracht oder zumindest vorbereitet.
Ebenfalls sprechen sie von einem Puffer, den die Stille Zeit errichte zwischen ihrer Person und den Kräften, die im Alltag auf sie einwirken. Durch diesen Puffer haben sie Abstand zu den Geschehnissen, und das sei sehr gut. Sie können nämlich dadurch den Ereignissen mit größerer innerer Gelassenheit und Freiheit begegnen, statt aus den eigenen Mustern auf sie reagieren zu müssen. Dieser Abstand verändere auch ihr Verhalten in Beziehungen. Da sie aber ihrer selbst und ihrer inneren Bewegungen bewusster seien, verlören sie sich weniger in Rivalität oder Identifikation mit dem Gegenüber, mit dessen Gefühlen und Erwartungen. Sie seien sich deutlicher ihrer selbst, ihres Gegenübers als Anderem und der Beziehung zwischen ihnen beiden bewusst.
Diese Erfahrungen der TeilnehmerInnen bestätigen die Erfahrungen mit der täglichen Zeit der Stille, die ich vor fast 50 Jahren begonnen habe. Diese Praxis hat den Grund gelegt, aus dem mein Leben und mein Glaube gewachsen sind. Ohne eine Praxis des Seiner-selbst-Innewerdens hängen die Formeln des Glaubens quasi in der Luft: „Gott ist unbedingte Liebe” – wunderbar, aber wo wird das erfahren? Der Zustand der Welt lässt dieses Urteil ja nicht ohne weiteres zu. „Wir sind Kinder Gottes” – großartig, doch wenn dieses Selbstverständnis nicht Fleisch bekommt und mehr und mehr unser Sein prägt, dann hat das Ethos des Evangeliums im Alltag wenig Chance auf Verwirklichung. Religion verfällt dann zu einer Inszenierung Gottes. Meister Eckhart kennt dieses Problem. Er unterscheidet zwischen einem Gott, der durch Worte oder liturgische Vollzüge „da” ist, und einem Gott, der dem Menschen innerlich ist und sein Wesen durchseelt. Er schreibt dazu in den Reden der Unterscheidung (Nr. 6):
„Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott; denn, wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott. Man soll vielmehr einen wesenhaften Gott haben, der weit erhaben ist über die Gedanken des Menschen und aller Kreatur. … Wer Gott so, d.h. im Sein, hat, der nimmt Gott göttlich, und dem leuchtet er in allen Dingen; denn alle Dinge schmecken ihm nach Gott, und Gottes Bild wird ihm aus allen Dingen sichtbar. In ihm glänzt Gott allzeit, in ihm vollzieht sich eine loslösende Abkehr und eine Einprägung seines geliebten, gegenwärtigen Gottes.” In der Übung der Meditation, im Gewahrwerden seiner selbst und im Loslassen der Anteile seiner selbst, die der Wirklichkeit widersprechen, die sich hier und jetzt enthüllt, wird Gott dem Menschen wesentlich.
Auf diese „loslösende Abkehr” vom Lebensstandard und -genuss der letzten 50 Jahre wird es ankommen in der Wirklichkeit der Zeitenwende, in der wir durch Klimakatastrophe, Krieg, Teuerung, … stehen. Die Umkehr wird eher zu bewältigen sein, wenn uns „alle Dinge nach Gott schmecken” und wir in allen Unsicherheiten, Verlusten und vielleicht auch Leiden vom Glanz Gottes durchdrungen sind.
So werde ich nicht müde, Euch zu empfehlen, auch in Eurem Alltag eine Zeit der Stille einzurichten.
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An Grenzen aushalten
Petra Maria Hothum SND, August 2022
„Wo Muster ist, soll Freiheit werden!” – Diese plakativen Worte gehen mir nach, seit ich sie vor einigen Wochen in einer Predigt Bertrams zu den Nachfolgebedingungen im Lukas-Evangelium gehört habe. Bertram fasst damit zusammen, worum es in der Nachfolge Jesu geht. Nämlich darum, aus unseren Mustern, die uns normalerweise wie selbstverständlich antreiben und regieren, herauszukommen und immer mehr zu dem Menschen zu werden, der wir in Wahrheit sind, zu einem Menschen, der aus dem verborgenen Grund aller Wirklichkeit, der unbedingte Liebe ist, in innerer Freiheit leben und handeln kann – so wie Jesus es getan hat.
Diese Perspektive, die in der Nachfolge Jesu eröffnet wird, klingt verlockend und einladend. Denn: Wer möchte das letztlich nicht? Wer möchte einengende Verhaltensweisen und stereotype Muster nicht gerne hinter sich lassen? Wer möchte nicht innerlich frei sein und sein Leben und Handeln dementsprechend gestalten können? Wer möchte nicht die Person sein, die er oder sie in Wahrheit ist und sich als solche bedingungslos angenommen und geliebt wissen? – Tief in uns Menschen gibt es diese Sehnsucht, eine Sehnsucht, die über alles, was die Welt bieten kann, hinausgeht, eine Sehnsucht allerdings auch, die vielfach verdeckt oder verschüttet ist durch all das vordergründig Drängende, zu Erstrebende oder zu Vermeidende, das uns beschäftigt und in unseren Mustern gefangen hält.
„Wo Muster ist, soll Freiheit werden!” – Wie kann dieser Verwandlungsprozess geschehen? Damit Muster und Automatismen ihre Selbstverständlichkeit und ihre Macht über uns verlieren können, müssen sie uns überhaupt erst als solche bewusst werden. Das wiederum ist alles andere als selbstverständlich, denn sie sind uns ja derart nah und wir sind derart mit ihnen verwoben, dass wir sie nicht ohne weiteres vor uns bringen und anschauen können. Dafür braucht es Abstand, einen Abstand, der vor allem dann entsteht, wenn wir an eine Grenze stoßen, wenn also das vermeintlich Selbstverständliche in Frage gestellt oder uns gar entzogen wird, es uns nicht mehr oder zumindest nicht im üblichen Maße zur Verfügung steht.
Was an dieser Grenze geschieht und warum sie so bedeutsam ist auf dem Weg der Nachfolge, führt Bertram in seiner Predigt folgendermaßen aus: „An der Grenze geht es nicht mehr mit dem Selbstverständlichen. Damit liefert die Grenze uns die Chance, uns dessen bewusst zu werden, was uns eigentlich in die Richtung getrieben hat, die uns die Grenze nun verlegt. Wir bekommen an der Grenze die Chance, etwas des uns Selbstverständlichen zu gewahren. Und wir kommen vor die Entscheidung, ob wir daran festhalten – auf Biegen und Brechen sozusagen – oder ob wir uns auf die Seite der Wirklichkeit stellen, die sich uns an der Grenze zeigt und ob wir uns von den Tatsachen führen lassen. Wir kommen vor die Entscheidung, ob wir die ‚Dinge‘ partout so haben wollen, wie wir sie haben wollen und schon immer gehabt haben oder ob wir die Wirklichkeit als solche anerkennen. Und wer Letzteres tut und seinen Antrieb, der ja jetzt ohnehin nicht funktioniert, loslässt, der erfährt Befreiung zu sich selbst. Er muss nicht das erreichen, wohin er unterwegs war; er kann ohne das leben. Er muss z.B. keinen Titel haben, kein stetig wachsendes Bankkonto, kein Ansehen und keinen Ruhm, um leben zu dürfen. Das Leben speist sich aus einer anderen Quelle, die tief in uns, aber zu der unser Zugang dünn ist. Und da wird er geweitet, das geschieht an der Grenze. Wir werden mehr der Mensch, der wir sind; wir werden mehr in unserem Kern gegründet, der Gott ist. …
Das Aushalten an der Grenze ist das, was wir in der Meditation zu üben versuchen: wir halten die Hitze aus, das Schwitzen, die Langeweile, den Schmerz … – so gut wir es halt können. Das verändert uns. Buddha sieht das genauso: ‚Das Aushalten beim Unangenehmen ist das herausragende Mittel zur Reinigung des Geistes‘ (Dhammapada), der dadurch freier wird.” (zitiert aus der Predigt von Bertram zu Lk 9,51-62 am 26.06.2022)
Dass uns Weitung, Freiheit und wahres Leben im Aushalten an der Grenze zuwachsen können, ist zutiefst herausfordernd, und zugleich ist es Frohe Botschaft, gerade in einer Zeit, in der es an vielfältigen Grenzsituationen – ausgelöst durch Corona-Pandemie, Klimawandel, Krieg, Teuerung, Energieknappheit usw. mit allen damit zusammenhängenden Entwicklungen, Fragen und Unsicherheiten – nicht fehlt.
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Die Kunst der Erinnerung
Ada v. Lüninck, Juli 2022
”Erinnere dich an das klare Licht, das reine, klare, weiße Licht, von dem alles im Universum abstammt, zu dem alles im Universum zurückkehrt, die ursprüngliche Natur deines eigenen Geistes. (…)”
Diese Einladung aus dem Tibetanischen Totenbuch berührt mich jedes Mal, wenn ich den Text lese oder er mir einfällt. Spontan schenke ich der Aussage Vertrauen. Mich berührt, dass ich mich erinnern soll. Mir wird zugesagt, dass ich das, was mir hier mitgeteilt wird – meine ursprüngliche Natur sei dieses reine, klare, weiße Licht – dass ich das schon weiß. Und ich ahne, dass das stimmt. Ich merke meine Sehnsucht danach: nach diesem Licht, nach meiner „ursprünglichen Natur” , nach meinem eigentlichen Selbst.
Bei näherem Hinschauen wird mir jedoch mitunter bewusst, dass ich mich erst einmal nach der Fähigkeit sehne, mich an so etwas Schönes in mir selbst überhaupt erinnern zu können, und mir fällt alles ein, was mich daran hindert, ich ergehe mich in der Betrachtung meiner vielen schlechten Eigenschaften, meiner traurigen Erfahrungen, all der – tatsächlichen oder auch nur von mir so zugeordneten – Finsternisse, die ich in mir vorfinde.
Das Tibetanische Totenbuch ist dazu geschrieben, dass es Sterbenden vorgelesen wird, um ihnen in den Wirren des Abschieds von ihrem irdischen Leben den Weg zu weisen.
Und ich nehme im Moment wahr, wie wir in unserem von Wohlstand, Sicherheit und Frieden verwöhnten Land von manchem Abschied nehmen müssen, das wir für so selbstverständlich hielten, dass wir nicht einmal darüber nachgedacht haben: von der Gewissheit, im Winter eine schön warme Wohnung zu haben; von der Annahme, dass Frieden zwischen den Völkern ein von allen Menschen geteiltes Ziel ist; von der Möglichkeit, mit Menschen in Kontakt zu sein, wann immer wir wollen; und vieles mehr. Für mich beinhalten Grundübungen im Ashram Jesu nicht zuletzt die Einladung, mich in allen äußeren und inneren Wirren wieder erinnern zu lernen. Ich finde dort, fern von meinem Alltagstun, das sonst meine Gedanken besetzt hält, einen geschützten Raum, in dem ich es wagen kann, mich dem, was mich innerlich bewegt, auszusetzen und dabei auch zu bleiben. Indem ich dabei bleibe, übe ich – gerade, wenn es unangenehm ist – Vertrauen in ein Nichts hinein, das, wie sich zeigt, doch trägt durch mein Bleiben hindurch.
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Begegnung mit der eigenen Wirklichkeit im Spiegel der Natur
Petra Maria Hothum SND, Juni 2022
Immer wieder hält die Natur rund um den Ashram Jesu spezielle „Schönheiten” und Überraschungen bereit. So vor ein paar Jahren dieses schlichte und doch eindrückliche Bild von Leben und Hoffnung: eine kleine, leuchtende Blume, die inmitten der Enge und Bedrängtheit durch die Pflastersteine in unserem Hof einen Weg gefunden hat, zu wachsen und sich zu entfalten. Sie hätte wohl nie einen Preis gewinnen können für vollkommene Schönheit und Perfektion und wurde vermutlich von vielen Vorübergehenden gar nicht erst wahrgenommen. Aber den einen oder die andere hat sie doch in ihren Bann gezogen und eingeladen, genauer hinzuschauen und ihren Anblick auf sich wirken zu lassen. Und auch als wir vor ein paar Jahren Bild-Motive ausgewählt haben für die Info-Wände unseres Ashram-Stands beim Katholikentag, war das Foto dieser kleinen Blume mit dabei.
Für mich spricht es von Annahme, selbstverständlichem Dasein, Lebenskraft inmitten von dem, was ist. Diese kleine Blume ist unspektakulär und erregt kein großes Aufsehen. Aber sie ist da, einfach da – so wie sie ist: mit beschädigten Blütenblättern, mit ihrem Schatten, umgeben von Steinen, etwas Gras, Unkraut, Schmutz … und zugleich beschienen von der Sonne und selbst leuchtend. Sie ist versehrt und wirkt dennoch kraftvoll. Dass sie nicht ohne Blessuren davongekommen ist, tut ihrer Strahlkraft keinen Abbruch, vielmehr verleiht es ihr eine ganz eigene Würde. Es wirkt, als gehöre diese Blume genau dorthin, als habe sie ihren Platz gefunden und angenommen – inmitten von alldem, was ebenfalls da ist, was dort auch noch wächst und herumliegt, was vielleicht herumkriecht, an ihr schnuppert und nagt.
Das Bild dieser kleinen Blume kann einladen,
- sich selbst und der eigenen Wirklichkeit darin zu begegnen …
- der eigenen Sehnsucht nachzuspüren – nach Dasein-Dürfen, Annahme, Leben …
- der eigenen Bedrängnis und Versehrtheit mit allen damit verbundenen Empfindungen Aufmerksamkeit zu schenken und dabei zu verweilen …
- den eigenen Platz mit seinen Grenzen und Möglichkeiten mehr zu entdecken, zu würdigen, einzunehmen …
- sich selbst einfach da sein zu lassen mit allem, was ist …
- und: in alldem den Grund aller Wirklichkeit zu erahnen, aus dem Hoffnung und Leben erwachsen – auch und gerade inmitten von Bedrängendem.
Vielleicht kann gerade die vor uns liegende Zeit des Sommers und Urlaubs Chancen bieten, uns zu öffnen für die kleinen und großen „Schönheiten” der Natur, in ihnen Bilder des Lebens zu entdecken, uns selbst darin zu begegnen und dem, worin unser Leben zutiefst gründet. Das jedenfalls wünsche ich uns allen von Herzen!
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Pfingsten: Geburtsstunde der Kirche
Bertram Dickerhof SJ, Mai 2022
Aus kleinen Anfängen in den Wohnungen der ersten Christen sind in unseren Breiten staats- und moraltragende Volkskirchen geworden. Nun läuft ihnen jedoch nicht nur das Volk davon. Nur noch sehr wenige Menschen treten in einen Orden ein oder wählen eine kirchliche Laufbahn, weder in der katholischen noch in der evangelischen Kirche. Es ist daher nur eine Frage der Zeit, bis in der Fläche die Glocken nicht mehr läuten, die Lichter religiöser Angebote ausgehen, die Kirchen leer stehen und verfallen. Es braucht eben Menschen, die Verantwortung übernehmen und sich engagieren. War es vor allem das, was an Pfingsten geschah? Dass aus Schülern, Fischern zumeist im Erstberuf, keinen Theologen, die zudem den Meister zu dessen Lebzeiten nur anfänglich verstanden hatten und durchaus Anstoß an ihm nahmen, Menschen wurden, die sich in der Öffentlichkeit hinstellten mit einer Botschaft, die den Widerspruch der Eliten und vieler Volksgenossen hervorrufen musste, und sich um diejenigen sorgten, die sich ihnen anschlossen.
Vor dieser Geburtsstunde der Bekenner und Verantwortungsträger am Pfingsttag hat der Geist Gottes jedoch schon lange im Verborgenen geweht. Sein Wirken beginnt damit, dass die Unruhe, die in jedem Menschen lebt, zu Bewusstsein kommt als nicht zu stillende Sehnsucht. So wird es auch in denen gewesen sein, die zu Jesu Jüngern wurden, weil sie ihn als jemanden erfuhren, der „Worte ewigen Lebens” hatte. Er wird ihr Lehrer, ihr Meister. Sie folgen ihm durch Durststrecken und Krisen und erkennen in ihm schließlich den Messias. Um so mehr blicken sie auf ihn, ihr leibliches Gegenüber. Sie schauen nach außen und vergessen dabei sich selbst und ihre Gefühle. Sie fragen nicht nach, als er von seinem Tod und seiner Auferstehung spricht, obwohl sie ihn nicht verstehen und nehmen weder ihre Ambivalenz ihm gegenüber noch ihre Angst ernst. Doch im Äußeren kann die Erfüllung der Sehnsucht des Herzens nicht gefunden werden. Es braucht die Wende nach innen und das Durchleben des Inneren. Das aber ist eine Lektion, die nur durch Erfahrung gelernt werden kann. Die Hinrichtung Jesu als Gotteslästerer stürzt die Jünger in eine Krise, die sie mit den Bewegungen ihres Herzens konfrontiert, ob sie wollen oder nicht: Trauer und Wut, Angst und Schuld, Scham und Ohnmacht, Gefühle, an denen sie schwer tragen oder die aus ihrer Sicht gar nicht sein dürften. Lukas ist es wichtig, uns darauf hinzuweisen, dass die Jünger nach Jesu Tod fünfzig Tage lang am selben Ort bleiben, wo ihnen der Auferstandene erscheint, zu ihnen vom Reich Gottes spricht und mit ihnen Mahl hält. Nach seiner Himmelfahrt bleiben sie im Gebet versammelt. Was kann das anderes bedeuten, als dass sie in dieser Klausur ihr Inneres durchleben und dem, was sie dort vorfinden, standhalten; dass ihr Erleben durch Schicksal und Lehre Jesu gedeutet wird und dass sie so ihrem wahren Selbst begegnen, in dem sie den auferstandenen Gekreuzigten wiedererkennen? Die Feier der Eucharistie und das Gebet sind die zwei Pfeiler der Praxis des Innehaltens und Seiner-Selbst-Innewerdens. Diese Praxis öffnet die „Täler und Tiefen des Herzens, in denen der Geist Gottes Raum finden kann” (Tauler). In der Erfahrung des Trostes, des Friedens und der Freude, die der Geist schenkt, liegt die Kraft, dem Sog der sichtbaren Welt mit ihrer Faszination, ihren Sorgen, ihren Zerstreuungen, ihrer Vergessenheit des Todes nicht zu erliegen. Nur durch Erfahrung bekommt die Welt Gottes Gewicht. Und dann kann der Mensch die Einladung vernehmen, das zu teilen, was er erfahren hat. Wer es wagt, sein gefühlt Zuweniges auszuteilen, erlebt das Wunder der Brotvermehrung: dass das anscheinend Ungenügende genügt, um den Hunger anderer zu stillen. Dann ist es offenkundig Pfingsten geworden.
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Ostern
Bertram Dickerhof SJ, April 2022
Schon der Ausbruch der Corona-Pandemie hat uns irritiert. Plötzlich ging nicht mehr, woran man ein Leben lang gewöhnt war: der morgendliche Weg ins Büro; planen, wie man will, und reisen, wohin man will; kulturelles Leben. Die Auffassung vom Dasein, die viele Jahre in der Luft lag, nämlich ein bequemes Leben zu führen, das man nach dem eigenen Geschmack gestalten und genießen kann, erhielt Dellen. Dann kam die Regenkatastrophe, die Ahr- und Erfttal zerstörte und 180 Menschen in den Tod riss …, ein Vorgeschmack der Klimakatastrophe. Nun ein brutaler Krieg in unserer Nachbarschaft mit Verknappungen, steigenden Preisen, Einbußen an Wohlstand und den bangen Fragen, ob wir, um Putin zu stoppen, nicht mehr Verzicht üben sollten, bzw., ob wir in einen Krieg hineingezogen werden, der am Ende zu einem atomar geführten 3. Weltkrieg wird. Die Bilder aus der Ukraine haben für einen Moment die gängige Überzeugung in Frage gestellt, dass es immer nur die anderen sind, die sterben, und es einen selbst höchstens am Ende trifft, einem Ende, das ganz weit weg ist. Vielleicht ist dieses Ende doch näher als man meinte? Wars das dann mit dem Leben? Ein kurzes Intermezzo …, bestehend aus Hasten nach Befriedigung und Sich-Mühen, Not und Verlust zu vermeiden; beides letztlich vergeblich, da man ja auf jeden Fall drankommt mit Leiden und Sterben. Da beginnt vor knapp 14 Milliarden Jahren ein Universum. Es entwickelt sich. Es entsteht Leben, das schließlich seiner selbst bewusst wird. Und nach einem Nu verschwindet der zu sich erwachte Geist im Nichts? Absurd. Viele halten solche Fragen deswegen von sich fern.
Andere glauben an Ostern.
Angesichts der wachsenden Ablehnung seiner Botschaft und der Tötungsabsichten gegenüber seiner Person durch die Repräsentanten des jüdischen Volkes, entscheidet sich Jesus, alledem nicht auszuweichen, sondern sich ihm zu stellen. Er ahnt den Preis seines Standhaltens: Marter und Tod. Doch ist dieser Tod für ihn mit der Aussicht verbunden, nach drei Tagen aufzuerstehen (Mk 9,31), eine Überzeugung, die aus seinem tiefen Vertrauen stammt. Es war vor dem Paschafest. Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war, um aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen. Die Stunde der Vernichtung seines irdischen Daseins ist für ihn die Stunde seiner Verherrlichung beim Vater: einem Gott, der das Universum entstehen ließ, um dem Menschen ewiges Leben zu verleihen. Diese Botschaft bezeugt Jesus mit seiner Existenz. Weil er auf diese Weise seinen Jüngern eine den Tod umfassende Sinnperspektive gibt, ist sein Zeugnis zugleich Tat der Liebe: Da er die Seinen liebte, die in der Welt waren, liebte er sie bis zur Vollendung (Joh 13,1f). Die Jünger bestätigen Jesu Lebenszeugnis. Petrus sagt an Pfingsten über ihn: Gott aber hat ihn von den Wehen des Todes befreit und auferweckt; denn es war unmöglich, dass er vom Tod festgehalten wurde. … Zur Rechten Gottes erhöht, hat er vom Vater den verheißenen Heiligen Geist empfangen und ihn ausgegossen, wie ihr seht und hört. (Apg 2,24.33). Menschen, die etwas von der Würde, Erhabenheit und Zukunft spüren, die die Auferstehung Jesu ihnen eröffnet, verstehen sich als „herausgerufen” aus der Vielzahl derer, die keine Hoffnung haben, und bilden „Ecclesia” , die Kirche.
Wie kommen die verängstigten, durch den Tod Jesu in ihren Messiashoffnungen enttäuschten Jünger zu einem öffentlichen Auftreten mit der Botschaft, dass der nach dem Gesetz verfluchte Jesus zur Rechten Gottes erhöht sei? Eine Botschaft, die ihre Mitwelt vor den Kopf stößt und die Führer des Volkes anklagt? Die Jünger vollziehen, was Jesus tat: sie nehmen ihr Kreuz auf sich. Nach ihrer Flucht bei der Verhaftung Jesu sind sie in den Evangelien von der Bildfläche verschwunden. Es ist nichts mehr zu tun für sie, und so entsteht jener Raum der Stille und des Innehaltens, in dem sie ihrer selbst innewerden und sich ihren Gefühlen stellen müssen und können. Was immer die Grenze, die das Schicksal Jesu auch ihrem Leben setzt, ihnen zu durchleben aufgibt, sie durchleben es – und tragen so das Kreuz, das das Leben in ihren Weg gestellt hat. Sie leiten nicht durch Aktionismus die Spannung ab, in der sie stehen, sondern lassen diejenigen ihrer Vorstellungen los, die der sich enthüllenden Wahrheit im Wege stehen. Solcher Art vorbereitet, begegnet ihnen der Auferstandene. Er ist derjenige, auf den hin sie geschaffen sind. Sie verstehen, dass Grund und Kern ihrer Existenz das verborgene Geheimnis aller Wirklichkeit ist, Gott. Und dass der Mensch dazu bestimmt ist, im Geist der Liebe zu wandeln und zu handeln und ewig in ihr zu sein. Da löst sich etwas in ihnen und öffnet sie: aus Angst wird Frieden, aus Schuld Versöhntheit, aus Feigheit Freimut.
Durchleben der Grenzsituationen, die das Leben bringt, an denen es uns zur Zeit nicht fehlt, Loslassen der eigentümlichen Vorstellungen und Zielsetzungen, die der Wirklichkeit der Grenze widersprechen: der Ort dafür ist die tägliche stille Meditation. Durch sie wächst die Zuversicht, dass das irdische Leben der im Vertrauen zu bewältigende Beginn einer ewigen Zukunft ist, und nicht ein Katze-und-Maus-Spiel des Todes mit hierhin und dorthin irrenden Menschen, die jener früher oder später doch alle frisst. Darüberhinaus befreit die Meditation dazu, eine gegebene Situation den Tatsachen entsprechend zu erkennen und (sach- und personen-) gerecht zu handeln. Eben weil der Tod nicht das letzte Wort hat! Nie war Ostern bedeutungsvoller als in Zeiten wie den unseren.
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Unsichere Zeiten
Bertram Dickerhof SJ, März 2022
Was soll man sagen in diesen unsicheren Zeiten, im Blick auf einen Krieg, in dem es einem immer wieder die Sprache verschlägt angesichts wachsender Gewalt, Eskalation und sinnloser Zerstörung, angesichts von unsäglichem Leid so vieler Menschen und auch angesichts der Unwägbarkeiten und weitreichen-den Konsequenzen auf so vielen verschiedenen Ebenen?
Nicht genug, dass Corona die Welt weiterhin im Griff hat, nicht genug mit immer gravierenderen Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels, die uns nahe rücken, nicht genug mit zunehmender Armut, Spaltung, Radikalisierung … in der Gesellschaft, nicht genug mit all den persönlichen Krisen und Schicksalsschlägen, die uns treffen können! – Nun auch das Kriegsgeschehen in der Ukraine, nicht weit von uns entfernt und mit Herausforderungen und Bedrohungspotential auch für unsere Lebenswirklichkeit.
Einmal mehr offenbart sich die Welt von ihrer verwundbaren, brüchigen Seite. Uns wird vor Augen geführt, wie schnell sich vermeintliche Sicherheiten als Illusion erweisen und erschüttert werden können. Unsere Vorstellung von der Selbstverständlichkeit eines Lebens in Freiheit, Frieden, Wohlergehen und Wohlstand wird empfindlich gestört, ja durchkreuzt.
In Verbindung mit dieser unsicheren Wirklichkeit gibt es viel Schlimmes, Ängstigendes, Unverständliches, Leidvolles … Es erwachsen tiefgreifende Fragen und Probleme, für die es keine schnellen Antworten und einfachen Lösungen geben kann, obwohl die Zeit drängt.
Neben alldem hat die Erschütterung von Sicher-Geglaubtem jedoch auch eine heilsame Seite. Sie zeigt die Grenzen der Machbarkeit auf und entlarvt falsche Ansprüchlichkeiten. Sie kann uns öffnen und lehren, das zu würdigen und wertzuschätzen, was zutiefst nicht selbstverständlich, was uns aber dennoch geschenkt ist. In diesem Zusammenhang hat mich vor einigen Tagen der folgende kleine Satz eines Prominenten an seine Fan-Gemeinde sehr hellhörig gemacht:
„Seid dankbar für jeden Tag, an dem ihr in Frieden leben dürft!”
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Missbrauch
Bertram Dickerhof SJ, Februar 2022
Immer neue Wogen der Aufarbeitung des Missbrauchs in der katholischen Kirche erschüttern die Öffentlichkeit und auch mich. Es tut mir weh wegen der Opfer, und es schmerzt mich, wie die Kirche, die bei aller Kritik und Distanz doch noch immer meine ist, sich verhält und nun auch in aller Öffentlichkeit so arm und beschämt dasteht, wie sie tatsächlich ist. Viele weiden sich am Fall der kirchlichen Oberen. Die Missbrauchsopfer drohen dabei, ein weiteres Mal übersehen zu werden – nun von der Aufklärung fordernden Öffentlichkeit.
Was sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen für das Leben der Opfer bedeutet, das habe ich wirklich begriffen erst hier im Ashram, wo etliche Personen mit Missbrauchserfahrung das Vertrauen hatten, von sich zu erzählen. Ihnen danke ich an dieser Stelle für ihren Mut. Man muss Menschen erleben, die Opfer von sexuellem Missbrauch geworden sind, um wirklich ermessen zu können, was Täter anrichten. Viele Bischöfe hatten diese Chance nicht. Darüber hinaus sind sie an ihre Priester gebunden: Bei der Priesterweihe legt der Kandidat, wie im Mittelalter der Vasall beim Lehnseid, seine Hände in die des Bischofs und verspricht ihm Ehrfurcht und Gehorsam. Umgekehrt umfasst der Bischof die Hände seines Priesters: wie ein Lehnsherr bietet er ihm Unterhalt, Treue und Schutz. Dabei konnte es oft bleiben, da es für die unmittelbare Aufdeckung eines Missbrauchs in der Regel keine Lobby gibt: niemand will es wirklich wissen.
Der katholischen Kirche in Deutschland gehen Gläubige, Geld und Mitarbeitende schon lange aus, doch nun in einer Weise, die ihre Existenz bedroht. Es gilt auch hier: „Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit” (W. Lambert). Diese Umarmung wird hoffentlich die Binnenkultur der Kirche verändern: weg von einem „gedachten Gott” und seinem gedachten Reich, hin zu einem „Gott im Sein” (Meister Eckhart); herunter vom hohen Ross einer vermeintlich moralisch-geistlichen Überlegenheit und eines Selbstverständnisses, wonach die Kirche Jesu Christi in der katholischen Kirche real gegeben ist, so dass sich außerhalb ihrer nur Elemente von Kirche finden lassen, hinunter auf den Boden der Wirklichkeit: das hat schon Saulus gut getan; weniger von kirchlicher Selbstbeschäftigung, Dekreten und idealisierten Normen, die niemand ehrlich leben kann, und mehr Orte in der Kirche, an denen der Mensch sein darf, wie er ist, wo er verstanden und angenommen wird.
Kirche besteht aus Menschen unserer Zeit und ist daher auch ein Spiegelbild der Gesellschaft ihrer Zeit. Vielleicht fällt mir deshalb gelegentlich Jesus und die ertappte Ehebrecherin ein (Joh 8): Die Ältesten wollen sie steinigen, wie es im Gesetz steht. Jesus: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein!” Es ist nicht so, dass für Jesus das Verhalten der Frau in Ordnung wäre: „Geh hin und sündige nicht mehr!” , kritisiert er sie. Beiträge zum Thema, die vom Wissen um die eigene Fehlbarkeit imprägniert sind, hätten mehr Chancen, aufgenommen zu werden und würden auch dem Zusammenleben in unserer Gesellschaft dienen. Es stimmt: die Aufklärung des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche verläuft zäh, und ich wünschte mir mehr einfaches Stehen zu dem, was falsch gelaufen ist. Doch andere gesellschaftliche Institutionen, Verbände, Vereine verweigern sich dem Thema total.
Man muss sich darüber im Klaren sein: auch eine reformierte, neue katholische Kirche bleibt eine Gemeinschaft fehlbarer Menschen. Auch wenn das Evangelium, nach dem wir Christen, Laien und Amtsträger, unser Leben ausrichten, dieses Leben formt, so wird es dieses nicht ganz und gar durchformen. Wie für Paulus gilt auch für uns: „Nicht, dass ich es schon erreicht hätte oder dass ich schon vollendet wäre. Aber ich strebe danach, es zu ergreifen, weil auch ich von Christus Jesus ergriffen worden bin.” (Gal 2,20) Sich von Christus ergreifen zu lassen und aus diesem Ergriffen-Sein zu leben, das ist die wesentliche Herausforderung.
Viele gehen jetzt. Hoffentlich ist das nicht das Aus für ihre Religion und Spiritualität, für die Sehnsucht des Herzens über alles Irdische hinaus, für ihren Weg der Freiheit und Liebe. Allein, nur auf sich gestellt, kann man Spiritualität nicht leben, in keiner Religion: überall braucht es Lehrer, Menschen, die schon um eine Ecke weitergeschaut haben; eine Gruppe, die mitträgt, ermutigt, herausfordert, in der etwas vom Woraufhin des spirituellen Weges spürbar wird, wie z.B. in der gemeinsamen Feier der Messe; eine Gemeinschaft, in der persönliche Begegnung und Offenheit möglich sind.
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Die innere Präsenz
Petra Maria Hothum SND, Januar 2022
„Es gibt eine Kraft, die dir das Leben schenkt – suche sie. Im Innern deines Leibes ruht ein kostbarer Schatz – suche ihn. O Wanderer, wenn du den großen Schatz zu finden trachtest, sieh dich nicht draußen um; blicke in dich hinein und suche ihn.”
RumiSeit sie mir zum ersten Mal begegnet sind, haben diese Verse des Sufi-Mystikers und Dichters Rumi eine unmittelbare Anziehungskraft auf mich ausgeübt, bergen sie doch eine ungeheure Verheißung in sich. Rumi spricht von einer Kraft, die Leben schenkt, von einem kostbaren Schatz, der im eigenen Inneren ruht. Und so wie er es beschreibt, ist diese innere Wirklichkeit bereits DA; sie muss nicht erst geschaffen, irgendwie hergestellt werden, und sie scheint unabhängig zu sein von dem, was im Außen sich abspielt und von dort aus auf den Menschen einwirkt. Jedoch: dieser „Schatz” im Innern ist nicht unmittelbar zugänglich, zumindest nicht, solange unsere Aufmerksamkeit ganz im Außen und an der Oberfläche verhaftet ist. Rumis Einladung, den inneren Schatz zu suchen, verstehe ich allerdings nicht als Aufruf zu einer totalen Abkehr vom Außen, als Aufforderung, die Augen vor der uns umgebenden Wirklichkeit zu verschließen. Ich höre seine Worte eher als ein Werben, sich in all dem, was so unmittelbar auf uns Menschen einwirkt und uns oft genug vollständig gefangen nimmt, nicht zu verlieren, sondern durch die Einkehr bei sich selbst und die Hinkehr zum Inneren den Kontakt zu finden zu einer Kraft, die uns wahrhaft Leben schenken kann – inmitten von allem, was ist, gerade auch inmitten aller verunsichernden, bedrängenden, herausfordernden äußeren Wirklichkeit. Diese Kraft, von der hier die Rede ist, lässt uns nicht über den Dingen, über den Anforderungen des Außen stehen, sie enthebt uns nicht all der Mühen, Sorgen und Kämpfe in den Niederungen und Unwägbarkeiten des Lebens. Es ist vielmehr eine Kraft, die uns erdet, uns auf dem Boden der – eigenen, gesellschaftlichen, globalen – Wirklichkeit ankommen lässt, uns befähigt zu echter Begegnung mit dem, was ist, und zu einem Handeln, das aus dem Prozess dieser Begegnung erwächst. Diese Kraft hat damit zu tun, in einen Raum der Präsenz, einen inneren Raum des Sein-Könnens und -Dürfens einzutreten und darin zu verweilen. Wenn sich uns dieser Raum eröffnet, ist dies ein wahrhaft kostbarer Schatz – er ist es immer, besonders jedoch in Zeiten der Verunsicherung, der Krise und des Umbruchs wie der unseren. Er gewährt einen gewissen Abstand zu den äußeren Geschehnissen und den damit verbundenen Empfindungen, lässt uns diese zugleich aber unmittelbarer betrachten und sie wahrnehmen in all ihren Facetten, ohne um jeden Preis reflexartig reagieren zu müssen. Er ermöglicht Zulassen, Gewahren und Durchleben der inneren Bewegungen, eröffnet einen Weg, diese zu unterscheiden und so zu freierem, von innen heraus gewachsenem und verantwortetem Agieren und Gestalten zu finden – in den jeweiligen äußeren Gegebenheiten mit ihren Möglichkeiten und mit ihren Grenzen.
Möge es uns in den Herausforderungen dieser Zeit geschenkt werden, immer wieder der Einladung nach innen zu folgen und uns vertrauensvoll einzulassen auf die Kraft, die wahrhaft Leben schenkt und uns von innen heraus Schritt für Schritt unseren Weg weist und gehen lässt inmitten aller Brüchigkeit und Unsicherheit im Außen!