Bertram Dickerhof SJ, Mai 2017
Den folgenden Text hat Sr. Gertrud Dahl geschrieben. Sie war 16 Jahre die Leiterin ihrer Gemeinschaft, besuchte den Ashram von Anfang an, hat am Lernweg teilgenommen und meditiert seit einigen Jahren mit einer Gruppe ihrer Schwestern. Sie schreibt:
„Seit über 20 Jahren begleitet mein Leben Madeleine Delbrêl, die „Mystikerin der Straße” (1904-1964). Für sie, die über 30 Jahre ihres Lebens in Ivry, einer Arbeiterstadt und Hochburg des Kommunismus im Südosten von Paris verbracht hat, war das Gebet die Kraftquelle ihres Lebens. Madeleine Delbrêl spricht dem Gebet eine „unsere Welt verwandelnde Kraft” zu. Sie sagt: «Heute ist beten die größte Wohltat, die man der Welt erweisen kann.»
Ich versuche eine Deutung dieser Worte, die geprägt ist von meinen eigenen Gebetserfahrungen.
Das Beten ist zunächst eine Wohltat für mich selbst.
Eines ist sicher: Gott braucht mein Gebet nicht. Er weiß überdies, was mir fehlt und wie es um mich steht, – besser als ich es selbst wissen kann.
Gottes wegen brauche ich nicht zu beten, aber ich bete um meinetwegen.
Je mehr Beten einen festen Platz in meinem Leben hat, desto fester bin ich überzeugt, dass ich mein Leben und alles, was mein Leben wirklich bereichert und letztlich lebenswert macht, selbst nicht machen kann. Das alles ist Geschenk, für das ich offen sein, bei dem ich mitwirken, das ich aber letztlich nicht entscheidend beeinflussen kann. Und ich staune, wie sich Vieles in meinem Leben, auch Schweres und Belastendes, zum Guten wendet.
Wenn ich vor einem Problem stehe, bringe ich dieses Problem in meinem Gebet vor Gott. Wenn ich dieses Problem nicht sehr schnell und nur nach meinen kurzsichtigen Vorstellungen lösen will, wenn ich also Geduld habe und warte, bis sich von Gott her eine Lösung zeigt, bis sich mir eine andere Sicht auf das Problem auftut, dann kann ich diese Lösung umsetzen – selbst wenn ich dafür wenig Zustimmung bekomme.
Das Gebet ist nicht nur für mich eine Wohltat, sondern auch für meine Mitmenschen, besonders für diejenigen, für die ich bete. Am spürbarsten ist das bei Schwierigkeiten mit einem Menschen in meiner näheren Umgebung. Zunächst bin ich voller Unmut, Enttäuschung, auch Ärger… Es braucht immer mehr oder weniger Zeit, bis ich mich entscheiden kann, für diejenige oder denjenigen, der mir aus meiner Sicht Schwierigkeiten macht, zu beten. Jedes Mal neu kann ich die Erfahrung machen, dass sich dann meine Beziehung zum Positiven hin ändert. Ich verliere die Fixierung auf das Fehlverhalten der anderen, kann auch meinen Anteil an der gestörten Beziehung sehen. Es „renkt sich zwar nicht in jedem Fall alles wieder ein”, aber ich werde befreit von meiner Befangenheit, von meinem festen Bild, das ich von meinen Mitmenschen hatte.
Das Gebet ist eine Wohltat für mich selbst, für meine Mitmenschen und schließlich für das, was weltweit geschieht. Belasse ich es nicht dabei, von Armut, Hunger, Krieg oder Terror nur zu lesen oder in den Medien zu hören, sondern bete auch für diese Menschen, dann wächst meine Solidarität mit ihnen. Es wächst in mir die Bereitschaft, gegen diese weltweite Not etwas zu tun; das zu tun, wozu ich jetzt in der Lage bin. Vor dieser Not kann ich meine Augen nicht mehr verschließen.
Und ich werde meine Augen auch nicht vor der Not in meiner näheren Umgebung verschließen können.
Im Blick auf die weltweite Not empfinde ich Dankbarkeit, ohne jedes Verdienst hier leben zu können, wo die Lebensbedingungen gut sind.
Wie mein, unser Beten politische Entscheidungen beeinflussen kann, bleibt verborgen. Doch glaube ich, dass das Gebet in diesen Anliegen zwar nicht immer ”unsere Gebetswünsche” erfüllen wird, aber es wird nicht ohne Wirkung bleiben.
Jeden Tag bete ich mit meinen Mitschwestern in der Kapelle unseres Mutterhauses am Morgen und am Abend das Stundengebet. Auch das ist eine Weise, Madeleine Delbrêls Überzeugung zum Ausdruck zu bringen: «Heute ist beten die größte Wohltat, die man der Welt erweisen kann.»
Mir ist bewusst geworden, für wie entscheidend ich das Beten, gerade auch in der Ashram-Weise, für das Leben halte: sonst ist dem Menschen keine Selbstbestimmung möglich, und ein Christ erfährt nichts von dem, was er glaubt.