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Missbrauch

Bertram Dickerhof SJ, Februar 2022

Immer neue Wogen der Aufarbeitung des Missbrauchs in der katholischen Kirche erschüttern die Öffentlichkeit und auch mich. Es tut mir weh wegen der Opfer, und es schmerzt mich, wie die Kirche, die bei aller Kritik und Distanz doch noch immer meine ist, sich verhält und nun auch in aller Öffentlichkeit so arm und beschämt dasteht, wie sie tatsächlich ist. Viele weiden sich am Fall der kirchlichen Oberen. Die Missbrauchsopfer drohen dabei, ein weiteres Mal übersehen zu werden – nun von der Aufklärung fordernden Öffentlichkeit.

Was sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen für das Leben der Opfer bedeutet, das habe ich wirklich begriffen erst hier im Ashram, wo etliche Personen mit Missbrauchserfahrung das Vertrauen hatten, von sich zu erzählen. Ihnen danke ich an dieser Stelle für ihren Mut. Man muss Menschen erleben, die Opfer von sexuellem Missbrauch geworden sind, um wirklich ermessen zu können, was Täter anrichten. Viele Bischöfe hatten diese Chance nicht. Darüber hinaus sind sie an ihre Priester gebunden: Bei der Priesterweihe legt der Kandidat, wie im Mittelalter der Vasall beim Lehnseid, seine Hände in die des Bischofs und verspricht ihm Ehrfurcht und Gehorsam. Umgekehrt umfasst der Bischof die Hände seines Priesters: wie ein Lehnsherr bietet er ihm Unterhalt, Treue und Schutz. Dabei konnte es oft bleiben, da es für die unmittelbare Aufdeckung eines Missbrauchs in der Regel keine Lobby gibt: niemand will es wirklich wissen.

Der katholischen Kirche in Deutschland gehen Gläubige, Geld und Mitarbeitende schon lange aus, doch nun in einer Weise, die ihre Existenz bedroht. Es gilt auch hier: „Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit” (W. Lambert). Diese Umarmung wird hoffentlich die Binnenkultur der Kirche verändern: weg von einem „gedachten Gott” und seinem gedachten Reich, hin zu einem „Gott im Sein” (Meister Eckhart); herunter vom hohen Ross einer vermeintlich moralisch-geistlichen Überlegenheit und eines Selbstverständnisses, wonach die Kirche Jesu Christi in der katholischen Kirche real gegeben ist, so dass sich außerhalb ihrer nur Elemente von Kirche finden lassen, hinunter auf den Boden der Wirklichkeit: das hat schon Saulus gut getan; weniger von kirchlicher Selbstbeschäftigung, Dekreten und idealisierten Normen, die niemand ehrlich leben kann, und mehr Orte in der Kirche, an denen der Mensch sein darf, wie er ist, wo er verstanden und angenommen wird.

Kirche besteht aus Menschen unserer Zeit und ist daher auch ein Spiegelbild der Gesellschaft ihrer Zeit. Vielleicht fällt mir deshalb gelegentlich Jesus und die ertappte Ehebrecherin ein (Joh 8): Die Ältesten wollen sie steinigen, wie es im Gesetz steht. Jesus: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein!” Es ist nicht so, dass für Jesus das Verhalten der Frau in Ordnung wäre: „Geh hin und sündige nicht mehr!” , kritisiert er sie. Beiträge zum Thema, die vom Wissen um die eigene Fehlbarkeit imprägniert sind, hätten mehr Chancen, aufgenommen zu werden und würden auch dem Zusammenleben in unserer Gesellschaft dienen. Es stimmt: die Aufklärung des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche verläuft zäh, und ich wünschte mir mehr einfaches Stehen zu dem, was falsch gelaufen ist. Doch andere gesellschaftliche Institutionen, Verbände, Vereine verweigern sich dem Thema total.

Man muss sich darüber im Klaren sein: auch eine reformierte, neue katholische Kirche bleibt eine Gemeinschaft fehlbarer Menschen. Auch wenn das Evangelium, nach dem wir Christen, Laien und Amtsträger, unser Leben ausrichten, dieses Leben formt, so wird es dieses nicht ganz und gar durchformen. Wie für Paulus gilt auch für uns: „Nicht, dass ich es schon erreicht hätte oder dass ich schon vollendet wäre. Aber ich strebe danach, es zu ergreifen, weil auch ich von Christus Jesus ergriffen worden bin.” (Gal 2,20) Sich von Christus ergreifen zu lassen und aus diesem Ergriffen-Sein zu leben, das ist die wesentliche Herausforderung.

Viele gehen jetzt. Hoffentlich ist das nicht das Aus für ihre Religion und Spiritualität, für die Sehnsucht des Herzens über alles Irdische hinaus, für ihren Weg der Freiheit und Liebe. Allein, nur auf sich gestellt, kann man Spiritualität nicht leben, in keiner Religion: überall braucht es Lehrer, Menschen, die schon um eine Ecke weitergeschaut haben; eine Gruppe, die mitträgt, ermutigt, herausfordert, in der etwas vom Woraufhin des spirituellen Weges spürbar wird, wie z.B. in der gemeinsamen Feier der Messe; eine Gemeinschaft, in der persönliche Begegnung und Offenheit möglich sind.