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Schaffen wir das?

Elisabeth Vosen, Mai 2016

Auch wenn der Flüchtlingsstrom zur Zeit deutlich nachgelassen hat, ist das Flüchtlingsthema nach wie vor in aller Munde und wird weiterhin kontrovers diskutiert. Im gelebten Alltag hängt viel von der Einstellung der Bevölkerung vor Ort zu den dorthin zugewiesenen Flüchtlingen ab. Auf die Zuweisung von Flüchtlingen hat man wenig Einfluss und die Zweckentfremdung von Sporthallen stößt keineswegs immer auf das Verständnis der bisherigen Nutzer. Dennoch bietet oft die konkrete Situation vor Ort – wie in unserem Fall – durchaus auch reale Gestaltungsmöglichkeiten, die das Klima im Ort positiv beeinflussen können.

In meinem eher wohlhabenden und gutbürgerlichen Wohnort westlich von Köln (12.000 Einwohner) kümmern sich zurzeit über 60 Ehrenamtliche allen Alters um die derzeit etwa 300 hier mit uns im Ort lebenden Flüchtlinge. In Spitzenzeiten haben 180 Asylsuchende in Zelten in unserer Mehrzweckhalle gelebt, derzeit sind es noch 40. In der Obdachlosenunterkunft wohnen 22 Personen, die anderen, vor allem Familien mit Kindern, konnten nach und nach über den Ort verteilt oder im Nachbarort in Wohnungen einziehen, die von der Stadt für sie angemietet wurden. Die Flüchtlinge kommen aus 17 Nationen. Es sind mehrheitlich junge Männer, darunter auch eine Gruppe unbegleiteter minderjähriger Jungs, die von einer Organisation rundum die Uhr zuverlässig betreut werden, sowie junge Familien mit bis zu sieben Kindern.

Neben der städtischen Unterstützung wird nun schon über ein knappes Jahr viel ehrenamtliche Hilfe geleistet: Fast alle Flüchtlingsfamilien haben eine eigene Begleiterin, die ihnen durch den Alltag hilft. Fast 20 Personen kümmern sich um das erste Vermitteln der deutschen Sprache, teilweise mit parallel angebotener Kinderbetreuung. Es gibt eine Kleiderkammer, differenzierte Hausaufgabenbetreuung, eine wöchentliche Sprechstunde für alle möglichen Angelegenheiten, Fußball- und Basketballtraining und eine Fahrradwerkstatt. Einige pensionierte örtliche Handwerksmeister haben eine kleine „Lehrwerkstatt“ für Holzarbeiten im Keller des alten Jugendheims aufgebaut, die derzeit leider aus Versicherungsgründen wieder geschlossen ist. Einmal pro Woche gibt es ein Angebot nur für Frauen, mit Kochen, Backen, Basteln, Handarbeiten und dabei so nebenher etwas Deutsch lernen. Alle zwei Wochen findet ein gut besuchtes Begegnungscafé im Wechsel mit dem Nachbarort statt, wo Einheimische und Flüchtlinge zusammen kommen und sich allmählich und unverbindlich kennen lernen können. Alle Fäden laufen in einer ökumenischen Nachbarschaftshilfe zusammen, finden weitestgehend in kirchlichen Einrichtungen statt und werden von Ehrenamtlern koordiniert. Staat und Kirchen geben Zuschüsse. Die Bevölkerung unterstützt großzügig und zuverlässig mit Geld- und Sachspenden, eine Internetplattform gibt bekannt, wo was gebraucht wird. Klagen und Gerüchten, die das Zusammenleben betreffen, wird nachgegangen, sobald sie bekannt werden und bei Bedarf wird entsprechend deeskalierend interveniert. Ortsansässige Übersetzer besprechen mit den Flüchtlingen immer wieder, wie das Leben in Deutschland funktioniert und welches Verhalten man hier von ihnen erwartet.

All dieses Vorgehen ist ein Hineintasten in ein allen Helfern unbekanntes Terrain nach dem Muster learning by doing. Manches verläuft nicht wie geplant oder erhofft, weil „gut gemeint” alleine noch nicht zum Ziele führt. Es gibt auch immer wieder Pannen, entstanden durch Missverständnisse und Unkenntnis auf beiden Seiten. Aufgrund der sprachlichen Schwierigkeiten und auch der Unerfahrenheit der Engagierten wird zwar viel für Flüchtlinge getan, jedoch noch wenig mit ihnen. Auch scheint es so zu sein, dass es in den vielen Heimatkulturen der Flüchtlinge nicht so üblich ist, Menschen zu helfen, mit denen man verwandtschaftlich nicht verbunden ist. Umso mehr freuen sich die Helfer darüber, dass sich nach und nach die ersten Flüchtlinge helfend mit einbringen. Sie engagieren sich in der Fahrradwerkstatt, helfen anderen beim Übersetzen und unterstützen einander tatkräftig beim Umzug. Zum persischen Neujahrsfest (Nouruz) hatten die Flüchtlinge Ehrenamtliche und interessierte Nachbarn eingeladen. Der Raum war entsprechend hergerichtet, es wurde auf geliehenen Instrumenten Musik aus der Heimat gespielt und getanzt und gesungen. Dank einer Spende des Fördervereins haben die Flüchtlinge für alle ein vielfältiges und leckeres persisches Essen zubereitet. Wie selbstverständlichen haben sie anschließend alle zusammen aufgeräumt.

Besonders als die Mehrzweckhalle voll belegt war, kam es dort von Zeit zu Zeit zu Spannungen, Streit und Gewaltsamkeiten unter den Flüchtlingen. Alte traditionelle Streitigkeiten zwischen verschiedenen religiösen Gruppen und Volkszugehörigkeiten wurden reaktiviert, vor allem gegen Afghanen. Dunkelhäutige Flüchtlinge scheinen in der sozialen Rangordnung ganz unten zu sein. Oft war Streitschlichten angesagt, was schwierig war, da die Helfer aus dem Sprachengewirr meist überhaupt nicht erkennen konnten, worum es ging. So hat dann auch mehrfach die Polizei eingreifen müssen.

Mitbürger, die schon lange im Ort leben und ursprünglich ebenfalls aus diesen Ländern kamen, unterstützten die Arbeit der Ehrenamtlichen zunächst nur zögerlich. Durch gemeinsame Sprache erkennen sie ja viel schneller und genauer, wen sie da jeweils vor sich haben und sind je nach dem entsprechend zurückhaltend. Häufig ist es im Rahmen der Diskretion hilfreich, von ihnen zu erfahren, was die Flüchtlinge ihnen berichten. In sehr vielen Fällen wurde z.B. den Flüchtlingen von den Schleppern sofortige Arbeit und eine schöne Wohnung in Deutschland versprochen. Um gleich ein Haus für die Familie zu bekommen, musste noch zusätzlich gezahlt werden. Von daher versteht sich auch, mit welchen Erwartungen manche Asylsuchende hierhergekommen sind. Sie wollen hier einfordern, wofür sie die Schlepper bereits bezahlt haben. Erst so nach und nach dämmert ihnen, dass sie aufs Übelste betrogen worden sind. Das Geld für die Flucht wurde oft von Verwandten und Freunden zusammengeliehen und die drängen nun auf Rückzahlung und setzen die Familie unter Druck. Manch junger Mann hat die Balkanroute zur Abenteuerreise nach Deutschland genutzt. Aus der perspektivlosen Heimat heraus macht es auch nichts, nun hier perspektivlos und längerfristig in Turnhallen und Sammelunterkünften zu sitzen. Mit dem Muster wie man zu Hause überlebt hat, könnte man es auch hier versuchen. Außerhalb der heimischen sozialen Kontrolle und aus Langeweile ist es vielleicht verlockend verschiedenes auszuprobieren: Diebstahl, Schwarzfahren, Alkohol und auch Rauschgift. (Dass Rauschgift hier so teuer ist, haben die Schlepper leider auch nicht gesagt.) So ist für manch einen jungen Mann der Weg ins Kriminelle nicht sehr weit.
Es gibt von einzelnen Abenteurern bereits enttäuschte Anfragen, was man tun muss, damit man wieder nach Hause kann. Leider nimmt kaum ein Herkunftsland seine geflohenen Staatsbürger problemlos wieder auf.

Seit den Geschehnissen in der Silvesternacht im benachbarten Köln hat sich die Stimmung hier auch unter den Flüchtlingen verändert. Die politischen Flüchtlinge, die gekommen sind, um endlich in Frieden und angstfrei leben zu können, und bereits begonnen haben sich zu integrieren, distanzieren sich weit und energisch von den Vorfällen in der Silvesternacht. Sie verstehen nicht, wieso man die Täter von Silvester nicht endlich zurück schickt. Stattdessen erleben sie, wie infolge deren Fehlverhaltens nicht nur unterschiedslos alle Menschen mit Migrationshintergrund misstrauisch beäugt werden, sondern sie sich sogar auch gegenseitig sehr misstrauisch begegnen, sofern sie sich nicht persönlich kennen.

Das Erlernen der deutschen Sprache ist für die, deren Asylgesuch anerkannt wurde, Pflicht. Leider wird es für sehr viele zu einer frustrationsreichen Angelegenheit. Die staatlich anerkannten Sprachkurse folgen einem strengen Einheitsraster, bei dem auf die Lernvoraussetzungen und persönlichen Gegebenheiten der Teilnehmer fast keine Rücksicht genommen werden kann. Es sind innerhalb einer vorgegebenen Stundenzahl vorgegebene Lernziele zu erreichen. Die Bildungsvoraussetzungen, die die Flüchtlinge mitbringen, sind de facto jedoch extrem unterschiedlich. Einige können auch in ihrer Muttersprache nicht lesen und schreiben. Unsere Schriftzeichen sind vielen weitgehend unbekannt.  Und wenn dann noch grammatische Strukturen zu verstehen sind, wird es besonders schwer.
Hier ist viel Enttäuschung auf beiden Seiten vorprogrammiert. Einige Flüchtlinge geben völlig überfordert auf und nehmen die damit verbundenen finanziellen Einbußen in Kauf. Dann heißt es von offizieller Seite schnell: Die Flüchtlinge wollen ja gar nicht.

Im Kleinen gesehen freue ich mich an der Entwicklung „meiner“ syrischen Familie, die ich seit über einem Jahr begleite. Sie ist 2014 über Libyen mit einem Holzboot mit 300 anderen Menschen über das Mittelmeer gekommen, wo sie nach 13 angstvollen Stunden von einem Frachter aufgelesen und nach Sizilien gebracht wurden. Von dort ging es mit dem Zug über Mailand nach Deutschland. Das hat für 2 Erwachsene und 2 kleine Kinder insgesamt 10.000 Euro gekostet. Im Februar 2014 war das Umziehen von Lager zu Lager in Deutschland zu Ende und die Familie erhielt in meinem Wohnort eine Wohnung zugeteilt. Inzwischen ist ihr Asylantrag anerkannt worden, und alle atmen auf. Der 20jährige Bruder der Frau hat es im Sommer 2015 über die Türkei und die Balkanroute bis hierher geschafft und lernt mit Fleiß und Ehrgeiz sehr schnell Deutsch. Die sechsjährige Tochter hat im Kindergarten so gut und zügig Deutsch gelernt, dass für den Schulstart im Sommer keine sprachlichen Schwierigkeiten mehr zu erwarten sind. Die Familie hat im Haus guten Kontakt zu den anderen Bewohnern und der gerade einjährige hier geborene Sohn kann jetzt laufen. Sauberkeit und Ordnung in diesem syrischen Haushalt mit drei kleinen Kindern lassen nichts zu wünschen übrig. Ich habe die syrische Küche kennen und schätzen gelernt und bin als Frau bei der Familie auch dann willkommen, wenn der Mann nicht zu Hause ist.

Des Weiteren freut es mich, dass die so unterschiedlichen Teilnehmer und Teilnehmerinnen in meinem freiwilligen Sprachkurs nebenbei auch lernen, respektvoll miteinander umzugehen. Inzwischen können sie sich einigermaßen alltagstauglich auf Deutsch verständigen. Mit Händen und Füßen habe ich von ihnen z.B. schon viel erzählt bekommen über die derzeitigen Lebensumstände im zerbombten Aleppo und von den ständigen Gräueltaten der Taliban in Afghanistan.
Dabei habe ich mal wieder erfahren, dass Integration am leichtesten im kleinen persönlichen Bereich stattfinden kann, und es dafür immer wieder offene Begegnungen braucht. Die schwierige deutsche Grammatik interessiert meine Schüler nur notgedrungen, wenn ich jedoch in einfachen Worten von meinem Leben in Deutschland und von meiner Familie erzähle, hören sie mit offenen Augen und Ohren zu. Und umgekehrt ist es genauso. Nach und nach lernen beide Seiten mit dem zu agieren, was schon geht. Realität und Vorstellung beginnen sich anzunähern, das Kennenlernen und Achten der anderen Kultur bahnt sich einen gemeinsamen Weg. Man bekommt eine erste Idee davon, wie die hier ankommenden Flüchtlinge aus den unterschiedlichen Heimatkulturen so denken und fühlen, und welchen Halt ihnen das Verbundensein mit ihrer Herkunftskultur und mit Menschen gleicher Volkszugehörigkeit bietet. Besonders deutlich wurde mir das in der Zeit des vergangenen Ramadan. 

Nebenbei habe ich auch bemerkt, dass in meinem eher noch flüchtlingsfernen örtlichen Bekanntenkreis mit großem Interesse das Engagement unserer örtlichen Flüchtlingsinitiative verfolgt wird. Durch das Erzählen darüber mag für manchen interessierten Zuhörer das Fremde der Flüchtlinge ein kleines bisschen weniger fremd und bedrohlich erscheinen. Und der eine und die andere fragen nach einer Weile, ob sie uns auf diese oder jene Weise ein bisschen unterstützen könnten.

Können wir das schaffen? Heißt die Frage nicht auch: Wollen wir das schaffen?

Inzwischen heißt es wohl auch schon: Wir müssen das schaffen! Wir im gemütlichen Westen haben zu lange nichts wissen wollen von der Not in anderen Teilen der Welt. Nun kommen diese Menschen aus Not zu uns, erst die Kriegsflüchtlinge und bald auch die Klimaflüchtlinge. Es wird nicht funktionieren, dass wir uns unsere Gemütlichkeit erhalten können während die Welt um uns brennt. Die Hoffnung, verschont zu werden, taugt nicht (Hilde Domin). Und noch etwas: Unser Volk hat sich im vergangenen Jahrhundert weltgeschichtlich gesehen nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Wären Pegida und Co nicht, ob es dann in diesem Ausmaß ein Engagement für die Flüchtlinge geben würde? Nun haben wir zumindest die Chance, es diesmal besser zu machen. Achtsam, gelassen und liebevoll kann man erste kleine Schritte versuchen im Bereich dessen, was gerade ist und was und wie´s gerade geht. Dazu wünsche ich uns Bereitschaft, Phantasie, Geduld, Ausdauer und Zuversicht.