Petra Maria Hothum SND, Dezember 2021
Wer unseren Programm-Flyer aufschlägt, kann dort als erstes folgenden Satz lesen: „Im Ashram Jesu geht es um die Übung, sich selbst sein zu lassen.“ Diese Aussage steht sozusagen als Überschrift über allem, was an Inhalten und Kursangeboten folgt; sie fasst wie in einem Brennglas zusammen, was wir hier zu leben und zu vermitteln versuchen. „Sich selbst sein lassen“ – für manch einen mag dies zunächst einfach, ja vielleicht nach einer Selbstverständlichkeit klingen. Doch wer genauer bei sich selbst hinschaut bzw. wer sich auf das Üben im Ashram Jesu einlässt, der merkt schnell, dass dies mitnichten der Fall ist. Sich selbst sein zu lassen hat entscheidend damit zu tun, bei sich selbst einzukehren, der eigenen Wahrheit inne zu werden und bei ihr zu verweilen – auch dann, wenn sie unangenehm, schmerzlich oder diffus ist und nicht den eigenen Vorstellungen und Wünschen entspricht. Sich auf diese Wendung nach innen einzulassen, ist alles andere als selbstverständlich. Der Normalfall ist vielmehr, dass unsere Aufmerksamkeit im Außen verhaftet bleibt und sich wie automatisch darauf richtet, bei Unangenehmem, Fehlendem, Verbesserungsbedürftigem schnelle Abhilfe zu schaffen. So sind wir vielfach damit beschäftigt, an uns, unseren Gegebenheiten und unserem Umfeld herum zu „schrauben“ und Einschränkungen und Grenzen, denen wir begegnen, möglichst zu überwinden. Wir ergehen uns in Vorstellungen, wie wir selbst, wie unsere Bedingungen, Beziehungen … sein sollten, wie unser Leben zu sein hätte, und entsprechend überlegen und planen wir, suchen nach Lösungen, streben immer neu Erfüllung in dieser Welt an und setzen viel dafür ein, sie zu erlangen – ohne je damit an ein Ende zu kommen. Der Preis dafür ist das Eingebunden-, ja Gefangensein in einem Hamsterrad, das uns letztlich am Kontakt mit unserem Innern hindert. Es hindert uns daran, hier und jetzt sein, hier und jetzt wirklich leben zu können als die Person, die wir in Wahrheit sind mit den uns gegebenen Möglichkeiten und Grenzen.
Der Sufi-Mystiker Rumi schreibt in einem seiner Gedichte: „Ich lebe in einem Gefäß namens Leben;ich lebe nur, weil meine Seele nicht geflohen ist.“ An Weihnachten feiern wir, dass der Sohn Gottes sich in das Gefäß namens Leben hineingegeben hat, in die Gesetzmäßigkeiten und Grenzen irdischen Daseins. Er hat wahrhaft in diesem Gefäß gelebt, weil seine Seele – gegründet und aufgehoben in einer alles umfassenden Liebe – nicht geflohen ist, sondern im Kontakt blieb mit dem eigenen Inneren bis hinein in den Tod. So ganz und gar eingelassen auf die Wirklichkeit, so sich selbst sein lassend in allem, war und ist sein Weg von innen her erlösend.
Möge Jesu Menschwerdung uns gerade in diesen äußerlich bedrängenden und kritischen Zeiten einladen, uns einzulassen auf den Weg nach innen und uns ermutigen, nicht zu fliehen vor dem, was ist. Mögen wir in der Begegnung mit unserer Wahrheit und im Bleiben dabei immer mehr zu den Menschen werden, die wir in Wahrheit sind, zu Menschen, die sich selbst sein lassen können – im Vertrauen auf den Grund aller Wirklichkeit, der Liebe ist.