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Strukturen sind wichtig, wichtiger noch ist aber die Personwerdung des Menschen

Bertram Dickerhof SJ, Mai 2021

Verschiedene Gespräche in den vergangenen Tagen haben die Themen „katholische Kirche“ und ihr Umgang mit sexuellem Missbrauch, insbesondere in Köln, die dadurch hochgeschnellten Kirchenaustrittszahlen, und die Frage aufgerührt, ob „wir Christen“ den Menschen unserer Zeit überhaupt noch etwas zu sagen haben. Das treibt mich um. Im Neuen Testament habe ich jedoch folgenden Denkanstoß gefunden:

In den synoptischen Evangelien halten die Jünger Jesus für den Messias; Jesus selbst sagt von sich, er sei der Menschensohn. Messias ist eine Rolle, eine Funktion, die darin besteht, die Römer zu vertreiben und einen gerechten, sozialen Gottesstaat auf der Basis der Torah zu errichten. Ein solcher Messias war Jesus nicht. Er war der Menschensohn, Sohn eines Menschen, sozusagen nichts als Mensch. Ihn definieren nicht Rolle, Funktion, Besitz oder sonstige Vermögen, sondern seine Weise, Mensch zu sein. Mensch mit Leib, Seele und Geist. Er arbeitete hart, aß und trank gerne, er liebte Gesellschaft, lebte Gemeinschaft, ließ sich von Frauen berühren und konnte mitfühlen. Er suchte die Einsamkeit, die Stille, das Gebet. Und er akzeptierte Grenzen: Müdigkeit z.B., als die Jünger von ihrer Mission zurückkommen, oder Trauer durch den Verlust des Lazarus oder wegen der verpassten Chance des reichen Jünglings. Vor allen Dingen konnte er das Scheitern seiner eigenen Mission annehmen und stand mit seinem Leben für sie ein. Er wusste: der Tod gehört zum Menschen. Solches Menschsein ist göttlich. Im Buch Daniel, in dem der „Menschensohn“ überhaupt erstmalig auftaucht, ist er eine göttliche Gestalt. „Ihm wurden Herrschaft, Würde und Königtum gegeben. Alle Völker, Nationen und Sprachen dienten ihm. Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft. Sein Reich geht niemals unter“ (Dan 7,14). Die Jünger Jesu verstanden, dass genau dies im Tod des Menschensohnes Jesus als seine Auferstehung geschah.

Was das mit der Kirche zu tun hat? Möglicherweise sieht diese sich vor allem in der Rolle Christi, in der sie in Sakramentenspendung, Verkündigung und Leitung agiert, und vernachlässigt, selbst lebendiger Menschensohn zu werden, d.h. den Weg der Menschwerdung zu gehen. Statt Person zu werden, bei sich selbst anzukommen und dem anderen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen, hat sie sich in erstarrten Rollen über die anderen mit objektiven Wahrheiten erhoben, die sie selbst nicht zu leben vermag und die auch andern im Leben nicht helfen.

Und wie es so ist im Leben: irgendwann bricht das Vernachlässigte, ja Verdrängte, alle Dämme: die nicht bewältigte Sexualität; die Unfähigkeit, Scheitern einzugestehen – wo nach der ureigenen Botschaft des Evangeliums Gott doch gerade die Sünder liebt, die umkehren; die Unfähigkeit zur Begegnung auch mit den Opfern. In der Krise zeigt sich, wer jemand ist. Die Krise mutet dem Betroffenen zu, das Kreuz dieser Krise zu tragen. Wenn das auch für Organisationen gilt, dann geht der Reformbedarf der katholischen Kirche weit über die Aufhebung des Zölibats und die Weihe von Frauen hinaus, auch wenn dies wichtige Schritte darstellen: Anstelle von idealisierten Normen müsste eine Kultur entstehen, die Menschwerdung fördert, in der Krisen weder Sünde noch tabu sind, sondern in der Nachfolge Jesu durchlebt werden, um so mehr bei sich als Person und bei Gott anzukommen.

Diese Kirche könnte ihre Erfahrungen der Menschwerdung einer Menschheit anbieten, die sich zum Krebsgeschwür des Planeten entwickelt hat: immer mehr, immer weiter. „Was geht, lasst uns rausholen, lasst uns machen, was uns in den Sinn kommt!“ – und damit ständig beweist, dass grenzenloses Streben nicht nur niemanden wahrhaft erfüllt, sondern die Erde zerstört. So paradox es klingt: Beim Annehmen-Lernen einer Grenze ist zu erfahren, dass Nichts sättigt. Diese Kunst zu erlernen ist der Ausweg aus den Krisen, die die grenzenlose Gier des Menschen heraufbeschworen haben. Und Christen könnten zusammen mit anderen in dieser Kunst vorangehen.