Bertram Dickerhof SJ, Februar 2019
Unser Leben vollzieht sich im Alltag. Beruf, Familie, Schule, Aus- und Fortbildung, selbst der Jahresurlaub lässt sich ins Alltagsgeschehen einrechnen. Die Sehnsucht des Menschen, die über alles Alltägliche, ja über alles, was ist, hinausgeht, muss, wenn sie ernst zu nehmen ist, von daher im Alltag ebenfalls ihren Platz haben. Sie hat ihn als Suche. Suchen braucht eine Vorstellung vom Gesuchten als „etwas”, das wir suchen können, außerdem Assoziationen dazu und Schlussfolgerungen daraus, wie und wo dies gesucht werden kann. Wer aber „etwas” sucht, kann nicht finden, was über jedes Etwas hinaus geht. Also geht es darum zu suchen, ohne zu suchen. Für solches Suchen werden wesentlich sein Offenheit und Empfänglichkeit, um das Gesuchte in dem zu entdecken, worin es sich uns mitteilt. Wenn es sich mitteilt. Rumi, der große persische Mystiker des Mittelalters, ist sich sicher, dass die Liebe, – sie ist für ihn das, was über alles hinaus geht – den Menschen sucht: „Liebe, wenn ich nach dir Ausschau halte, merke ich, dass du mich suchst.” Das trifft auch zu auf den Gott und Vater Jesu Christi, „durch dessen barmherzige Liebe das aufstrahlende Licht aus der Höhe” (Lk 1,78) den Menschen in Jesus sucht und besucht.
Gewöhnlich sehen wir den Alltag mit seinen Mühen und Freuden lediglich als das Instrument an, unser Leben in dieser Welt fristen und genießen zu können. Er ist aber zugleich das Instrument, durch das uns Gott zur Vereinigung mit sich führen, sich uns schenken, unsere Sehnsucht über alles hinaus erfüllen will. Die Ereignisse des Alltags, die guten wie die schlimmen, die Mühen, die Enttäuschungen, die Freuden, alles dient dazu, uns zu verwandeln, um zur Begegnung mit Gott fähig zu werden. In dieser Sicht wird das Faktische des Alltags, das, was im Alltag auf uns zukommt, von Gott her Zugeschicktes, auf das der Vertrauende antwortet, indem er offen dafür ist, es an sich heranlässt, es anzunehmen lernt und rückblickend darin die Führung Gottes erkennt.
Die Augen für die Anwesenheit Gottes in allen Dingen, in allen Ereignissen des Lebens, im Zugeschickten, gehen uns nur auf, so erkennt der Jesuit Alfred Delp, der mit seiner Verurteilung und Hinrichtung rechnen muss und den damit verbundenen Gefühlen in seiner Gefängniszelle in Plötzensee nicht ausweichen kann, wenn wir die guten und die bösen Stunden durchleben. Nur dadurch, dass sie uns ermutigen und verändern dürfen, ist zu dem Brunnenpunkt zu gelangen, an dem der durch sie Verwandelte einen Anteil erlebt an der Erfüllung seiner Sehnsucht.
Im Jugendzentrum, meinem ersten Einsatzort als junger Priester, gab es einen Zivi, der meinen Kampf um den Erhalt des Jugendzentrums gewöhnlich mit dem in Bayrisch vorgetragenen Spruch garnierte: „Es geht alles gut aus!” Ich hätte ihn dafür ohrfeigen können (habe mich aber auf Augenrollen beschränkt). Heute sehe ich: der Mann hatte Recht. Allerdings: die Vorstellung davon, was gut und was schlecht ist, muss man aufgeben, statt sie der Wirklichkeit aufzwingen zu wollen. Und wichtiger als Machen und Tun sind Empfänglichkeit, Offenheit und Durchleben, um das Handeln zu erkennen, das Gott für uns bereitet hat, damit wir es vollziehen (Eph 2,19). Dann wird das Leben frei, es wird in einer einfachen und nüchternen Weise erfüllt, bleibt gegründet auch in schweren Stunden, wird gelebt mit wachsender Zuversicht auf eine endgültige Erfüllung der Sehnsucht über alles hinaus im Tod, da sie sich immer wieder anfanghaft gezeigt hat in den Toden mitten im Leben.