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Vergebung

Bertram Dickerhof SJ, Oktober 2016

In den letzten Kursen bin ich immer wieder einmal über das Thema „Vergebung” gestolpert. Sei es, dass jemand seinem Vorgesetzten dessen unengagierte Haltung nicht vergeben konnte oder seinem Ehepartner nicht dessen ganz anders geartete Interessen, was oft auch geringes Verständnis für die eigenen Belange einschließt; sei es, dass Eltern so gar nicht mit den Entscheidungen ihrer Kinder einverstanden sein können oder jemand unzufrieden ist mit seinem eigenen Leben und dem, was er erreicht hat.  Solche Situationen werden manchmal schöngeredet, manchmal bagatellisiert. Die Kränkung soll nicht gespürt werden. Die mit ihr verbundenen Gefühle wären ein übler Schlag ins Kontor der eigenen Identität.

In diesem Fall ist es wahrscheinlich, dass die nicht gespürten Gefühle ausagiert werden und andere zu Opfern der eigenen Verletztheit machen. Wo aber die Wahrheit stärker ist als die eigenen Abwehrmechanismen, beleuchtet sie Trauer und Bitterkeit, Wut, vielleicht auch Scham, Minderwertigkeit, Rachegefühle. Ich erinnere mich, wie all diese Gefühle mit Wucht immer wieder hochkamen, wenn ich durch irgendeinen Auslöser wieder an die entsprechende Situation erinnert wurde: durch zufällige Erwähnung eines der Beteiligten, durch nichtsahnende Nachfragen lange nicht mehr getroffener Bekannten; durch alte Notizen, auf die ich stieß: sofort war die ganze Misere wieder lebendig und, erstaunlicherweise auch lange Zeit später, so frisch wie am ersten Tag.

Irgendwann fiel mir auf, dass ich litt an der Erregung, in die ich jeweils geriet. Die Sache war wie sie war, das Unrecht war geschehen, und es begann bereits das Gras darüber zu wachsen. Niemanden interessierte es mehr, nur ich hielt daran fest und litt. Als der Wunsch stärker wurde, diese Gefühle loszulassen, um wieder inneren Frieden zu finden, begann ich darum zu beten, vergeben zu können. Wieso die Sache mich so tief hatte verletzen können, welche meiner fundamentalen Erwartungen dabei frustriert wurden, das war mir schon im Laufe der Zeit klarer geworden. Nun versuchte ich, mein Agieren damals aus den Augen meines Gegners zu sehen. Ich schlüpfte in seine Haut, um zu verstehen, welche Interessen ihn damals leiteten, unter welchen Zwängen er stand, was für ihn als Person mein Verhalten bedeutete. Langsam, langsam wurden meine Gefühle ruhiger. Jahre später konnte ich vergeben.

Vergebung ist nicht eine fromme Veranstaltung, Ansinnen des Über-Ichs oder eines etwas antiquierten Gottes. Vergebung ist die Waffe der Opfer, um die Herrschaft des erlittenen Unrechts im eigenen Leben zu brechen; um frei zu werden und den inneren Frieden wieder zu finden; um nicht den „Täter-Opfer-Täter-Reigen” weitertanzen zu müssen,– wie Konrad Stauss in seinem empfehlenswerten Buch dies nennt ( Stauss, K.: Die heilende Kraftder Vergebung, Kösel 2010). Ein weiterer Schritt in diesem Prozess kann dann der Versuch der Versöhnung mit dem Gegner sein, die Aussprache in der Perspektive gegenseitiger Vergebung.